Hier beginnt die Geschichte von Ronen
Er ist müde. Seine Beine fühlen sich an, als sei er monatelang Tag und Nacht gelaufen. Dabei sind nur knapp zwei Wochen verstrichen, seitdem er von zu Hause aufgebrochen ist. Voller Abenteuerlust und Erwartung hat er sein Dorf verlassen. Bereit, die Welt zu entdecken, seine eigenen Erfahrungen zu machen. Er hat sich zum ersten Mal erwachsen gefühlt. Jemand, der für sich selbst einstehen kann. Kein Verstecken mehr hinter den Röcken seiner Mutter. Nun könnte er endlich selbst entscheiden. Er war kein Kind mehr, er war ein Mann.
Jetzt, zwei Wochen später, steht da nur ein Junge. Erschöpft, einsam und verloren. Nächtelang hat Ronen unter freiem Himmel geschlafen, immer wieder geweckt vom fernen Geheul der Wölfe. Schon nach zwei Tagen wäre er am liebsten umgekehrt und heim gegangen. Zurück in die sichere Eintönigkeit des Dorflebens. Zurück hinter die schützenden Röcke der Mutter. Er vermisst sie. Ihre Umarmungen, ihr Lachen, den Geruch ihres Haares nach frischem Brot und Rauch.
Aber dann dachte er an seinen Onkel und daran, was er wohl sagen würde, wenn Ronen wie ein weinendes Kleinkind nach Hause gerannt käme. Den Blick hätte er nicht ertragen. Also ging er weiter. Ertrug Kälte und Regen und versuchte, die Wölfe zu vergessen.
Er folgte der Straße zu Fuß nach Südwesten. Einfach weiter, immer weiter. Nach vorn blicken, nicht zurück, das hatte Eorn ihm beigebracht. Wenn er Glück hatte, konnte er auf einem Handwerkskarren einige Meilen mitfahren.
Jetzt ist er fast am Ziel. Dol Banred liegt vor ihm. Er muss nur noch ans andere Ufer übersetzen, dann hat er es geschafft.
Was dann passieren soll, weiß er noch nicht. Er sehnt sich nur nach einem Bett und einer Mahlzeit. Alles andere wird sich schon irgendwie fügen.
Ronen atmet noch einmal tief durch und tritt dann zu dem Fährmann, an den ihn eine Frau verwiesen hat.
Der Mann mustert den staubigen Jungen vor sich aufmerksam. Die Kleidung ist nach der langen Reise schmutzig und ein Ärmel hat einen langen Riss. Dennoch, gute Qualität. Eindeutig kein Bettler. Er erhebt sich und nennt ihm eine Preis für die Überfahrt. Als der Junge ohne zu verhandeln zahlt ist er ein wenig verwundert. Wohl nicht aus der Gegend.
Ronen ist erleichtert, dass der Fährmann keine Fragen stellt. Er ist zu müde, um jetzt große Unterhaltungen zu führen. Zögerlich betritt er die schwankende Fähre. Das Wasser ist ihm suspekt. Wenn er hier hinein fällt, ist er verloren, denn er kann nicht schwimmen.
Langsam setzen sie sich in Bewegung und ein wenig kommt die anfängliche Aufregung zurück. Ronen weiß nicht, was ihn am anderen Ufer erwartet. Er wird es einfach auf sich zukommen lassen.
--> Nordhafen